Neue gesellschaftliche Bündnisse | Der Freiheit eine Bühne! Über das Verhältnis von Kunst und Demokratie | Schloss Mannheim
Der Freiheit eine Bühne! Über das Verhältnis von Kunst und Demokratie

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich bedanke mich herzlich für die Einladung, heute hier vor Ihnen und nachher auch mit Ihnen über die Rolle nachdenken zu dürfen, die der Kunst in einer Demokratie zukommt. Doch ich merke, dass ich bereits bei dieser ersten Formulierung ins Stocken gerate. Denn ist es wirklich zulässig, von einer „Rolle“ zu sprechen, die der Kunst in einer Demokratie zukommt? Ist es nicht Kennzeichen totalitärer Staaten, genau zu wissen, welche „Rolle“ die Kunst hat und dementsprechend darüber zu wachen, dass sich die Kunst einzig in ihrer vorgeschriebenen Rolle bewegt und alle Kunst, die, nun ja, aus der Rolle fällt, zu diffamieren, zu zensieren, zu ächten, zu verbrennen und zu verbannen?
Haben nicht gerade wir Deutschen im vergangenen Jahrhundert in zwei totalitären Staaten die Erfahrung gemacht, welch letzten Endes tödlicher Zwang nicht nur den Menschen, sondern auch der Kunst angetan wird, wenn der Staat sich anmaßt vorzuschreiben, worin ihr Daseinszweck oder eben ihre „Rolle“ besteht?
Ich fürchte, wir müssen uns zunächst einmal mit einer paradoxen Formulierung, ja mit einer Absage begnügen: Die Rolle der Kunst in einer Demokratie besteht darin, keine Rolle haben zu müssen – sondern frei zu sein. Anders gesagt: Die Kunst genießt in einem freiheitlichen Rechtsstaat – denn keinen anderen können wir meinen, wenn wir von „Demokratie“ sprechen, in Zeiten, in denen es Politiker gibt, die von perfiden Gebilden wie einer „illiberalen Demokratie“ träumen, ist es nicht unwichtig, dies zu betonen – im freiheitlich--demokratischen Rechtsstaat also genießt die Kunst ähnliche Freiheitsrechte, wie sie dort den einzelnen Bürgern zukommen. So wie keine staatliche Instanz einem Bürger vorschreiben darf, nach welchen Kriterien, Wertvorstellungen oder Idealen er sein Leben gestaltet, und keine staatliche Instanz ihm verbieten darf, kriterienlos und ohne Ideale einfach nur in den Tag hineinzuleben – so darf keine staatliche Instanz einem Künstler vorschreiben, nach welchen Kriterien, Wertvorstellungen oder Idealen er sein ästhetisches Tun gestaltet beziehungsweise eine Kunst einschränken, die sich der Regellosigkeit verschreibt und stattdessen die kreative Spontaneität feiert.
Lassen Sie mich einen kurzen Blick in unser Grundgesetz werfen, dessen 70. Jubiläum wir in diesem Jahr gefeiert haben. In Artikel 5, Absatz 3 heißt es: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Im ersten Absatz dieses Artikels werden die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit der Informationsbeschaffung und die Pressefreiheit festgelegt. Im zweiten Absatz wird bestimmt, dass diese Freiheitsrechte „ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“ finden. Das Interessante nun: Auf den im nächsten Absatz stehenden, bereits zitierten Satz „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“ folgt lediglich die Ergänzung: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ Sonst nichts. Keine Rede von Schranken wie in Absatz 2, der sich auf die freie Meinungsäußerung, die Presse- und die Kommunikationsfreiheit bezieht, kein Wort über die „Treue zur Verfassung“, von der die Kunstfreiheit nicht entbinde. In unserem Grundgesetz findet sich als einzige Bestimmung: „Kunst ist frei.“
Ich kann und will die verfassungsrechtliche Diskussion an dieser Stelle nicht vertiefen – selbstverständlich sind in der Bundesrepublik auch der Kunstfreiheit staatliche Grenzen gesetzt, kein Künstler darf einen Menschen ermorden, auch wenn er dies noch so sehr für einen Ausdruck seiner Kunst hielte – aber ich denke, es lohnt sich, dass wir uns vergegenwärtigen, dass die Kunstfreiheit in unserem Grundgesetz einen extrem hohen, ja offenbar einen noch höheren Schutz genießt als etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Pressefreiheit.
Folgt daraus nun, dass ich meinen Vortrag an dieser Stelle beenden kann und wir alle einen Kaffee oder Schnaps trinken gehen sollten, weil zu dem Thema „Kunst und Demokratie“ weiter nichts zu sagen ist?
Wäre ich radikal libertär, würde ich meine Papiere jetzt vermutlich in der Tat zusammenpacken und für den Schnaps plädieren. Aber ganz so einfach scheint mir die Angelegenheit dann doch nicht zu sein.
Es hilft, wenn wir uns der Frage, in welchem Verhältnis Kunst und Demokratie zueinander stehen, von anderer Seite, genauer gesagt von zwei entgegengesetzten Seiten nähern, und zwar indem wir fragen: Braucht Kunst Demokratie? Und: Braucht Demokratie Kunst?
Lassen Sie mich mit der ersten Frage beginnen: Braucht Kunst Demokratie? Schauen wir uns in der Geschichte der Menschheit um, ist die Antwort ein klares Nein. Einige der größten Kunstwerke, die wir bis heute bewundern, von der „Ilias“ über die „Mona Lisa“ bis zu Beethovens Sinfonien, sind in Gesellschaften entstanden, die alles andere als demokratisch verfasst waren. Ohne – oder mit nur wenig – Zynismus ließe sich sogar sagen: In keinem Staatsklima konnte die Kunst besser gedeihen als in einem musisch ambitionierten, zumindest in Ansätzen aufgeklärten Absolutismus, siehe italienische Renaissance, siehe Weimarer Klassik oder die einzigartig reiche deutsche Theaterlandschaft, die sich den musischen Ambitionen zahlreicher deutscher Könige, Herzöge und Fürsten vor allem im 18. und 19. Jahrhundert verdankt.
Schwieriger wird es, die Frage „braucht Kunst Demokratie?“ zu beantworten, wenn wir uns in der Gegenwart umschauen.
Meine soeben geäußerte These vom günstigen Klima für die Kunst im musisch ambitionierten Absolutismus hinterlässt bei mir selbst einen schalen Nachgeschmack, wenn ich an das milliardenschwere Kunst-brimborium denke, das etwa das Emirat Abu Dhabi seit einer Weile veranstaltet. Die Dependance des Pariser Louvre, die dort vor zwei Jahren in einem spektakulären Neubau eröffnet wurde – ist sie mehr als ein Milliardengeschäft, mehr als ein Ausdruck von „Trotz und Protz“, wie es der Kunstkritiker Hanno Rauterberg in der Wochenzeitung „Die Zeit“ bezeichnete? Selbst wenn mir einer aus dem dort herrschenden Clan der Zayeds ein sattes Stipendium anböte – was ich für extrem unwahrscheinlich halte –, würde ich als Künstlerin in ein Land gehen wollen, in dem es keine wirkliche Kunstfreiheit gibt, trotz der scheinbar schwebenden, licht- und luftdurchlässigen neuen Museumsfassade? Davon, dass ich als Frau mit Hang zur dezidierten Meinungsartikulation nicht in ein Land gehen wollte, in dem nicht einmal Männer ungestraft ihre Meinung sagen dürfen, brauche ich gar nicht erst zu reden. Ja, muss nicht jeder Künstler, der einigermaßen klar bei Verstand ist, heute alles dafür tun, dass er unter freiheitlichen Bedingungen leben und arbeiten kann?
Die zahllosen Geschichten von verfolgten, eingesperrten oder im Exil lebenden Künstlern scheinen die Antwort selbst zu geben. Ich nenne nur einige Namen: Salman Rushdie, Asli Erdogan, Ai Weiwei oder auch Kirill Serebrennikov, dessen Hausarrest in Moskau zwar aufgehoben wurde. Seinen Pass hat er vom russischen Staat allerdings noch immer nicht zurückerhalten, so dass ihm seine Arbeit als Regisseur im Ausland extrem erschwert wird.
Komplizierter wird es, wenn man über einen Schriftsteller wie Vladimir Sorokin nachdenkt. Auch er ist mit der russischen Obrigkeit immer wieder in Konflikt geraten. Andererseits: Was bliebe von seinem fantastischen Werk, wenn es die sowjetischen beziehungsweise russischen Zustände nicht mehr gäbe, gegen die er seit über 30 Jahren anschreibt? Was sagen wir zu einem Schriftsteller wie dem chinesischen Literaturnobelpreisträger Mo Yan, der keineswegs in kritischer Distanz zum Regime seines Landes steht und dessen Romane dennoch kühne Kunstwerke sind? Welchen Reim machen wir uns auf das Phänomen, dass zahlreiche westliche Künstler, vor allem Architekten (Jean Nouvel, Herzog & de Meuron, Meinhard von Gerkan) davon schwärmen, dass sie ihre künstlerischen Pläne nirgends so großdimensioniert und zügig realisieren können wie etwa in den Vereinigten Arabischen Emiraten? Oder in China?
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin überzeugt, dass Kunst sich nur dort wirklich entfalten kann, wo der Geist der Freiheit nicht unterdrückt wird. Dennoch unterschätzen wir die Kunst, wenn wir nicht sehen, dass sie in Einzelfällen stärker sein kann als alle politischen Systeme, denen der Künstler als Bürger unterworfen ist.
Lassen Sie mich zur zweiten Frage kommen: Braucht Demokratie Kunst? Ich bin mir bewusst, dass dies die Frage ist, die für alle Kulturpolitik in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen die noch drängendere ist. Denn natürlich wäre die stärkste Legitimation für staatliche Kultursubventionen, wenn sich zeigen ließe, dass diese nichts sind, was sich ein demokratischer Staat in Zeiten des Wohlstands leistet, sondern dass sie ihrerseits einen essentiellen Beitrag dazu leisten, dass der demokratisch verfasste Staat ein demokratisch verfasster Staat bleibt.
Vor 235 Jahren stand hier in Mannheim schon einmal ein Schriftsteller und versuchte leidenschaftlich dafür zu plädieren, dass die Verantwortlichen im Staat nichts Besseres für die Tugend der Bürger und das Gedeihen des Gemeinwesens tun könnten, als eine „gute stehende Schaubühne“ einzurichten. Sie alle wissen, worauf ich anspiele: auf Schillers Vortrag, den er anno 1784 vor der Kurfürstlichen Deutschen Gesellschaft zu Mannheim gehalten hat, und der später unter dem beinahe sprichwörtlich gewordenen Titel „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“ veröffentlicht wurde.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie diesen flammenden idealistischen Vortrag heute wieder lesen. Schiller selbst räumte in einem Brief an einen Freund nicht lange, nachdem er den Vortrag gehalten hatte, durchaus zerknirscht seinen „unglücklichen Hang zum Vergrößern“ ein. Und in der Tat: Es ist groß, sehr groß, was die Kunst, die Theaterkunst, dem Vortrag zufolge alles leisten soll: Wo die weltliche Gerichtbarkeit versagt, soll „die Schaubühne Schwert und Waage“ übernehmen und „die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl“ reißen; darüber hinaus soll sie „tausend Laster“ strafen, „die jene ungestraft duldet“; sie soll „tausend Tugenden, wovon jene schweigt“, empfehlen; sie soll „die strenge Pflicht in ein reizendes, lockendes Gewand“ kleiden; sie soll „den Menschen mit dem Menschen bekannt machen“ – und paradoxerweise soll sie gleichzeitig den „Nationalgeist“ dergestalt zum Ausdruck bringen und befeuern, dass sie auch den Weg zur deutschen Nation ebnen soll. Gestatten Sie mir, weil’s so schön ist, noch ein letztes, längeres Zitat: „Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchem von dem denkenden, bessern Teile des Volkes das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volks; der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht.“
Sie sehen, meine Damen und Herren, das ist alles schon a bissl viel. Und wie bereits angedeutet: Schiller selbst dürfte bewusst gewesen sein, dass die idealistischen Gäule da mit ihm durchgegangen sind. Denn bezeichnenderweise räumt er in einer Passage seines Vortrags selbst ein, dass „Molières Harpagon – also „der Geizige“ – noch keinen Wucherer besserte“ und dass auch „Karl Moors unglückliche Räubergeschichte die Landstraßen nicht viel sicherer machen wird“. Noch klarer benennt Schiller die Krux seines Projekts „Schaubühne als moralische Anstalt“ in seinem Aufsatz „Über das gegenwärtige teutsche Theater“, den er zwei Jahre zuvor geschrieben hat. Das nüchterne Fazit dort: „Bevor das Publikum für seine Bühne gebildet ist, dürfte wohl schwerlich die Bühne das Publikum bilden.“ Sprich: Wer sich vom Theater tief berühren – und nicht bloß zerstreuen, animieren, unterhalten – lässt, „zeigt eben damit, dass er bereits ein besserer Mensch ist und das Theater zu seiner moralischen Verbesserung gar nicht nötig hat“, wie Rüdiger Safranski in seiner Schiller-Biografie anmerkt.
Auf diesem Wege kommen wir nicht weiter, fürchte ich, ja im Gegenteil: In diesem Ansatz lauert eine moralische Überfrachtung oder auch moralische Überheblichkeit, die der Freiheit der Kunst im Wege steht, und zwar sowohl was den künstlerischen Schaffensprozess angeht als auch die spätere Wahrnehmung der Kunst durchs Publikum.
Ich nehme an, viele von Ihnen kennen die künstlerisch vermutlich gelungenste aller bisherigen US-Fernsehserien „Breaking Bad“. Hand aufs Herz: Hat es nicht auch Sie hingerissen, wie sich der grundredliche, aber eben auch biedere Chemielehrer Walter White in einen Schwerkriminellen verwandelt, der am Schluss alle dahinmetzelt – vom Boss eines mexikanischen Drogenkartells bis hin zum eigenen Schwager, der bei der Drogenfahndung arbeitet? Sicher, dieser anständige, todkranke, unterversicherte Familienvater rechtfertigt seine Drogenkocherei und auch Mörderei damit, er habe alles ja nur „für die Familie“ getan. Doch am Schluss, wenn seine Ehefrau ihn, in den Trümmern ihrer Existenz, anfährt, sie raste aus, wenn er noch einmal sage, er habe all dies nur „für die Familie“ getan, antwortet er in aasiger Seelenruhe: „Nein. Ich habe es getan, weil es mir gefallen hat.“ Was sollen wir dazu sagen, wenn wir das Konzept einer „Schaubühne als moralische Anstalt“ im Hinterkopf haben? Müssten wir nicht entsetzt rufen: „Böse! Nicht anschauen! Weg damit“?
Aber sind wir damit nicht auch unversehens mitten in der erregt geführten Debatte darüber, ob der Literaturnobelpreis für Peter Handke ein Skandal ist? Darf ein Schriftsteller die höchste Auszeichnung, die die Literaturwelt zu vergeben hat, erhalten, der Texte geschrieben hat, die sich darüber mokieren, wie die internationale Presse über ein Massaker berichtet, anstatt die Täter jenes Massakers anzuklagen und seine Opfer zu betrauern? Ein Schriftsteller, der Texte geschrieben hat, die die Schönheit einer Landschaft beschwören, obwohl in dieser Landschaft ein Genozid begangen wurde? Ist ein Künstler, der kein Hehl daraus macht, dass er die westliche Moderne von Grund auf verachtet, und der sich in den Jugoslawienkriegen deshalb die Scheuklappen aufgesetzt und auf die Seite der Serben geschlagen hat – ist das Werk eines solchen Künstlers preis- beziehungsweise subventionswürdig?
Ich meine, ja. Und selbstverständlich will ich auch erklären, warum mir der neue Moralismus, mit dem sich Kunst konfrontiert sieht, suspekt ist.
Nicht erst seit der Handke-Debatte, seit einigen Jahren schon, spätestens aber seit der MeToo-Bewegung, grassiert die Forderung, ein Kunstwerk oder gar der Künstler als Person selbst müsste moralisch unbedenklich sein. Ich erinnere nur kurz an das jähe, rüde Ende, das der Karriere von Kevin Spacey bereitet wurde, nachdem mehrere jüngere Männer gegen den Schauspieler Anschuldigungen erhoben hatten, er sei sexuell übergriffig geworden. Oder an der Entfernung des Gedichts von Eugen Gomringer an der Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule, nachdem Studentinnen der Hochschule sich von diesem Gedicht – das mit den Worten „Alleen“, „Blumen“ und „Frauen“ spielt – belästigt oder gar bedroht gefühlt hatten. Oder an den Vorgang beim Berliner Theatertreffen 2017, bei dem der Intendant Thomas Oberender anordnete, dass bei der Bühnenadaption von Peter Richters Wenderoman „89/90“ der Schauspieler, der in dem Stück einen Neonazi spielt, das Wort „Neger“ auf der Bühne nicht aussprechen darf, sondern stattdessen „Beep“ sagen muss. Oberenders Begründung lautete: „Weil auch beste Absichten und Kontextualisierungen dieser Art nicht vermeiden oder verhindern können, dass Leute, die traumatische Erfahrungen mit der Verwendung dieser Begriffe haben, dadurch verletzt und gekränkt werden.“
Ich habe dieses letzte Beispiel nun doch etwas ausführlicher zitiert, weil es mir exemplarisch zu offenbaren scheint, was hier schiefläuft.
Ich halte die Inflationierung des Begriffs „Trauma“ oder „traumatisiert“, der in diesen Kontexten regelmäßig fällt, für verkehrt. Traumata zeichnen sich häufig dadurch aus, dass Traumatisierte die grauenvolle Erfahrung so tief in ihr Unbewusstes verbannt haben, dass sie gar nicht wissen, worin ihr Trauma besteht. Dementsprechend kann alles, ein bestimmtes Lied, aber auch nur ein Klang, ein Geruch oder eine bestimmte Wetterlage, die mit dem traumatischen Erlebnis in Verbindung steht, das Trauma aufs Neue triggern – und die Traumatisierten wissen nicht, wie ihnen geschieht. In diesem Sinne ist es also vollkommen aussichtslos, durch Restriktionen verhindern zu wollen, dass ein Kunstwerk ein Trauma triggert.
Selbstverständlich ersetzt ästhetische Erfahrung keine Traumatherapie. Dennoch birgt die ästhetische Erfahrung aus meiner Sicht die einzigartige Chance, sich im geschützten Raum der Kunst mit seinen eigenen Dämonen zu konfrontieren oder Erfahrungen zuzulassen, die man in der wirklichen Welt nicht machen möchte. Denn das Einzigartige an der Kunst ist doch gerade, dass sie jener eigentümliche Raum zwischen der Wirklichkeit und dem Reich der Einbildung, der Fiktion ist, in dem reale Gefühle durch Vorgänge – oder Klänge oder Bilder oder Worte – erzeugt werden, die lediglich der Fantasie eines Künstlers entsprungen sind. Ich selbst bin mehr als glücklich, dass ich meiner Mutter niemals beilschwingend hinterhergerannt bin. Dennoch kann ich „Elektra“ tief verehren als ein Werk, in dem der Hass, den es zwischen meiner Mutter und mir – neben aller Liebe – zeitweise eben auch gegeben hat, seinen Ort fand, an dem er sich ungestraft austoben konnte.
Sie werden es ahnen: Ich bin eine große Anhängerin des Katharsis-Gedankens. Die ursprünglich von Aristoteles entworfene Theorie ist zu komplex, als dass ich auf sie hier näher eingehen könnte, dennoch sei so viel gesagt: Katharsis bedeutet nicht nur, dass ich durch die ästhetische Erfahrung die Chance bekomme, die destruktiven, aggressiven Neigungen in mir so auszuagieren, dass die Dämonen zumindest für eine Weile besänftigt sind. Katharsis bedeutet auch, dass ich mich in der Kunst meinen Ängsten, meinen Schwächen, meinen Verwundungen stellen kann. Wer eine Kunst verlangt, die alle Beleidigungs-, alle Verletzungsmöglichkeiten vermeidet, bringt sich und andere um diese Chance.
Auf den konkreten Fall des Richter-Stücks beim Berliner Theatertreffen angewandt, bedeutet dies: Entweder glaubt Oberender, dass diese Aufführung (auch) eine ästhetisch produktive Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus ist, dann muss eins der zentralen Schimpfwörter, mit dem Rassisten dunkelhäutigere Menschen beleidigen, vorkommen dürfen. Alles andere scheint mir eine groteske Verharmlosung zu sein. Oder Oberender misstraut der Aufführung – dann ist aber rein gar nichts dadurch zu retten, dass ein anstößiges Wort weggebeept wird.
Es ist nun aber nicht so, dass die Angriffe auf die Kunstfreiheit lediglich aus einem Milieu kommen, das die Kunst in den Dienst von Emanzipation und Antidiskriminierung stellen will. Seit einigen Jahren erleben wir, wie das andere Ende des politischen Spektrums versucht, eine Rückkehr zu einer bieder-reaktionären, nationalistischen Kunstauffassung zu erreichen. Ich denke, ich brauche hier, vor diesem Publikum, den Katalog der Diffamierungen, Beleidigungen und fragwürdigen parlamentarischen Anfragen nicht aufzublättern, mit dem die AfD von Berlin über Halle bis Stuttgart versucht, Theater, Opernhäuser, Museen, Kunst- und Literaturfestivals unter Druck zu setzen. Und ich will zu diesen niederträchtigen Einschüchterungsversuchen auch nur so viel sagen: Kritik zu üben an einem fehlverstandenen Konzept von politischer Korrektheit ist völlig legitim – ich selbst habe eine solche Kritik soeben artikuliert. Diese Art von Kritik aber hat nichts, ich wiederhole: nichts damit zu tun, der Herkunft von deutschen Künstlern oder ausländischen Künstlern in Deutschland hinterherzuschnüffeln; hat nichts damit zu tun, es für skandalös zu halten, wenn ein dunkelhäutiger Schauspieler den Hauptmann von Köpenick spielt; hat nichts damit zu tun, Theater, deren Spielpläne einem nicht behagen, als „Propagandatheater“ zu verunglimpfen. Den Fehler, zu meinen, man täte der „deutschen Kunst“ einen Gefallen, wenn man sie von allem „Undeutschen reinigt“, haben Deutsche im vergangenen Jahrhundert schon einmal begangen. Es macht mich fassungslos, dass Deutsche diesen Fehler heute abermals begehen wollen. Am Ende des Wegs „deutsche Kunst den Deutschen“ steht nur eines: die Vernichtung. Auch die der deutschen Kunst.
Da ich zum Ende meines Vortrags kommen muss, möchte ich die Frage, in welcher Weise Demokratie Kunst braucht, noch einmal direkt angehen. Ich hoffe, wenigstens einige überzeugende Hinweise gegeben zu haben, warum der Weg, die Kunst unmittelbar in den Dienst der freiheitlich-demokratischen Sache stellen zu wollen, in die Irre führt. Das heißt aber nicht, dass ich nicht dennoch überzeugt bin, dass Kunst dazu beitragen kann, Tugenden zu stärken, die wir in einer offenen, demokratischen Gesellschaft für ein friedliches Miteinander brauchen. Denn – und das ist womöglich das noch größere Wunder, das Kunst vollbringen kann, als das kathartische Reinigungswunder – Kunst wirft uns nicht nur auf uns selbst und unsere Leidenschaften, unsere Abgründe zurück. Kunst fordert uns beständig dazu auf, unsere gewohnte Sicht der Dinge aufzugeben und neue Blickrichtungen, neue Perspektiven zu wagen. Deshalb fürchten Autokraten, die einer gesamten Gesellschaft ihren verzerrten Blick auf die Welt verordnen wollen und jede Abweichung mit Zorn verfolgen – deshalb fürchten solche Autokraten die Kunst und ihre Freiheiten. Nur in der Kunst kann ich heute ein römischer Kaiser, morgen ein armes Landmädchen und übermorgen ein Luftgeist sein. Nur in der Kunst rauscht ein Lindenbaum so, dass er von Heimat und Sehnsucht und Fremdheit und Tod erzählt. Nur in der Kunst kann die ganze Welt auf ein schwarzes Quadrat zusammenschrumpfen.
Anstatt die Kunst einem zeitgeistigen Diversity-Diktat oder einer Ideologie engstirniger Volkstümlichkeit zu unterwerfen – ich sage dies bewusst in beide politische Richtungen –, sollten wir begreifen, dass Kunst, zumindest solche, die diesen Namen verdient, immer die Aufforderung ist, die Welt mit anderen Augen zu sehen, mit anderen Ohren zu hören. Und wenn wir sie, die Kunst, in ihrem Können ernstnehmen, dann kann sie in der Tat erheblich dazu beitragen, dass wir draußen, im wirklichen Leben, in der gesellschaftlichen Realität, behutsamer, verstehender miteinander umgehen, als wir es derzeit tun.
Der Vortrag wurde am 28. November 2019 im Schloss Mannheim bei der Veranstaltung „Forum: Neue gesellschaftliche Bündnisse – Kultur und Demokratie“ gehalten.
Thea Dorn, geboren 1970, studierte Philosophie und Theaterwissenschaften in Frankfurt, Wien und Berlin. Als Schriftstellerin und Autorin schreibt sie unter anderem Kriminalromane, Theaterstücke und Essays. Sie arbeitete als Dozentin für Philosophie an der Freien Universität Berlin und hielt Seminare zu Fragen der modernen Ethik und Ästhetik. Thea Dorn wurde mit dem Raymond-Chandler-Preis und dem Deutschen Krimipreis 2000 ausgezeichnet. Seit März 2017 ist sie festes Mitglied der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“, dessen Moderation sie im März 2020 übernommen hat.